U N D E R   C O N S T R U C T I O N

Idee, Text und Gestaltung: Arne Lüker


Nach 1200 Jahren sind nur wenige historische Figuren und Legendengestalten auch heutigen Generationen so gegenwärtig wie Widukind, der berühmte Sachsenführer im Krieg gegen Karl den Großen. Gerade in Ostwestfalen, im »Widukind-Land« zwischen Enger, Herford und Minden, ist die Erinnerung an den sächsischen Adligen höchst lebendig. In dem Landstrich, in dem ich aufgewachsen Wittekindbin, stolpert man alle Nase lang über Wittekindsquellen, -pfade und -wege, Mythen und Legenden. Wittekind ist der Name Widukinds in seinem Stammland, welcher aus den altsächsischen Wörtern für »Holz, Wald« und »Kind« zusammengesetzt ist, er bedeutet also so viel wie »Waldkind« oder »Kind des Waldes«. Auch war der Name eine Umschreibung des Wolfes. Das Tier wurde auch mit dem Krieg und dem Tod in Verbindung gebracht. Widukind war also eher ein Beiname, kein Eigenname. Und hier beginnt schon das eigentliche Problem: Wer war Widukind wirklich?

Wer der sächsische Adlige nämlich genau war, der Karl dem Großen mehr als neun Jahre lang erbitterten Widerstand leistete, wo er gelebt hat, wo er sich nach seiner Unterwerfung und Taufe niederließ und wo oder wie er schließlich starb, ist weitestgehend unbekannt. Umso lebhafter ist der Mythos, der den Sachsenführer bereits seit dem Mittelalter umgibt. Das Widukind-Bild war immer stark von zeitgebundenen Fragestellungen und politischen Leitbildern geprägt: mal dominierte der heidnische Kriegsheld, dann wieder der bekehrte gläubige Christ und schließlich, in der nationalsozialistischen Propaganda, das Bild vom »nordischen Rassehelden«. Mit dem Widukind-Bild verbanden sich immer wieder religiöse, dynastische, nationale, völkische und rassistische Wertvorstellungen, Interessen und Ideologien.

Ziel dieses »Projektes Widukind« ist daher die Entmystifizierung dieser historischen Gestalt. Falls Sie also historische Texte, Bücher oder Bilder, relevante Berichte, Artikel oder Fundstücke, Kenntnisse über Orte oder Stätte haben, die mit Widukind in Verbindung stehen, wäre es hilfreich, wenn sie sich hier melden oder es einfach als Kopie oder Original schicken würden.

Doch beginnen wir mit den Fakten, die bisher soweit als halbwegs gesichert angesehen werden können: Beginnen wir mit den Sachsenkriegen!

    Die Ausbreitung der Sachsen Seit dem 4. Jahrhundert drangen die ursprünglich im heutigen Schleswig-Holstein ansässigen Sachsen über die Elbe in südwestlicher Richtung vor und unterwarfen ganz Nordwestdeutschland ihrer Herrschaft. Zwei Jahrhunderte später bewegten sie sich in drei Teilverbänden, den sogenannten »Heerschaften«, weiter nach Süden: die Westfalen, die erstmals im Jahre 775 namentlich erwähnt werden, westlich der Weser in Richtung auf den Niederrhein, die Ostfalen an der Elbe entlang, die Engere zwischen den beiden Flügeln beiderseits der Weser. Zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung erstreckte sich das sächsische Stammesgebiet von der Eider und der Nordsee bis fast an den Rhein, von der Elbe und der Saale bis an die Yssel.
    Am Rhein stießen sie auf die Franken. Das christliche Frankenreich umfasste im 8. Jahrhundert den hessischen und mitteldeutschen Raum. Beide Seiten standen sich feindselig gegenüber. Die heidnische Religion der Sachsen verschärfte den Gegensatz. Die Spannungen entluden sich in ständigen Raubzügen und Grenzkriegen. Die fränkischen Maßnahmen beschränkten sich zunächst nur auf Grenzsicherungen. Diese eher defensive Abwehrhaltung änderte sich mit dem Herrschaftsantritt Karls des Großen im Jahre 771. »Charlemagne« - heute würde er wohl »Big Charly« genannt werden - leitete eine expansive Eroberungspolitik ein, die in Verbindung mit einer Zwangsbekehrung zum Christentum einherging.
    Eine vorsichtige Christianisierung der Sachsen hatte bereits im 7. Jahrhundert durch Missionare der angelsächsischen Kirche eingesetzt (Willibrord seit 690, Bonifatius seit 716). Ihre Missionsversuche litten jedoch unter herben Rückschlägen. Erst die »Schwertmission« Karls des Großen brachte nach 772 den durchschlagenden Erfolg. Mit Waffengewalt, Strafen bis hin zum Massaker und mit großangelegten Deportationen erzwang er den Übergang zum Christentum. Die Taufe diente ihm als äußeres Zeichen der Unterwerfung unter das fränkische Königtum. Christenglaube und Königstreue waren eins. Karls Biograph Einhard [1] formulierte dies aus fränkischer Sicht: »(Der Krieg gegen die Sachsen ist) der langwierigste und grausamste und für das Frankenvolk anstrengendste, den es je geführt hat. Denn die Sachsen, die wie fast alle Völker auf dem Boden Germaniens wild von Natur, dem Götzendienst ergeben und gegen unsere Religion feindselig waren, hielten es nicht für unehrenhaft, göttliches und menschliches Recht zu schänden und es zu übertreten ... Die Grenze zwischen uns und den Sachsen verlief fast überall in der Ebene, mit Ausnahme weniger Stellen, wo größere Waldungen oder Bergrücken das beiderseitige Gebiet klar trennten; hier nahmen Totschlag, Raub und Brandstiftung auf beiden Seiten kein Ende. Das erbitterte die Franken so, dass sie nicht mehr bloß Gleiches mit Gleichem heimgaben, sondern offen Krieg mit ihnen führen wollten. Der Krieg wurde also begonnen und von beiden Seiten mit großer Erbitterung ... 33 Jahre lang fortgeführt.«

    Irminsul als Weltenbaum -  Kreuzabnahmerelief an den Externsteinen Unmittelbar nach der Reichsversammlung von Worms brach im Juli 772 ein fränkisches Heer gegen die Sachsen auf. Als erstes wurde die Eresburg südlich von Paderborn, das heutige Obermarsberg, angegriffen und erobert. Die strategisch wichtige Sachsenfeste lag auf einem steil über der Diemel aufragenden Berg. Karl zerstörte die Irminsul, das sächsische Baumheiligtum, und den angrenzenden Tempelhain. Die dort niedergelegten Gold- und Silberschätze fielen in die Hände der Franken. Der Raub der Schätze und die Zerstörung der Irminsul und des heiligen Hains lösten einen erbitterten Rachezug der Sachsen aus. Durch die Zwangschristianisierung sahen sich insbesondere die bäuerlichen Schichten in ihrer Identität existentiell gefährdet. Ihre verehrten Kultplätze sollten gegen Kirchen, ihre Kultzeichen gegen das Kreuz, ihre heidnischen Begräbnisstellen gegen christliche Friedhöfe und ihre Freiheit gegen Zehntpflicht eingetauscht werden. Unverständnis und Empörung waren die Folge.
    Westfalen um 800 So scheiterten die fränkischen Kriegszüge regelmäßig am zähen Widerstand der Sachsen, der bei nachlassender fränkischer Truppenpräsenz fortwährend neu aufloderte und sich in Rachefeldzügen entlud. Strategisch wichtige Burgen wurden zurückerobert, die Karlsburg in Paderborn niedergebrannt und ein Verwüstungskrieg gegen christliche Kirchen geführt. 775 zog das fränkische Heer zum zweiten Mal nach Sachsen. Die Syburg über dem Ruhr-Lenne-Tal und die Eresburg wurden zurückerobert und der Weserübergang bei Höxter trotz heftiger sächsischer Gegenwehr erzwungen. Daraufhin durchquerte das fränkische Heer Ostfalen bis zur Oker. Die Sachsen stellten Geiseln und leisteten den Treueeid. Zwischen 776 und 777 kam es zu den ersten Massentaufen an den Lippequellen, beim heutigen Lippspringe. Der immer wieder aufbrechende Widerstand der Sachsen ging von den unteren Ständen der Freien und Laten (Minderfreien) aus, während die Oberschicht profränkisch gesinnt war und aus wirtschaftlichen und politischen Gründen mit Karl kooperierte. Dies zeigte sich auch während des Reichstages 777 in Paderborn, der ersten Reichsversammlung auf sächsischem Boden. Viele sächsische Adlige ließen sich an den Paderquellen taufen. Nur einer fehlte, Widukind. Dieser stellte sich an die Spitze des Widerstands und organisierte in den nächsten Jahren den Kleinkrieg gegen die Franken.

    Während der zweiten Versammlung an den Lippequellen im Jahre 782 erfolgte die formelle Einbeziehung Sachsens in den Reichsverband durch die Errichtung von Grafschaften, die Karl zumindest teilweise an sächsische Adlige übertrug. Zugleich wurde die berüchtigte »Capitulatio de partibus Saxoniae« beschlossen. Notgeldschein von 1921: Hinrichtung der 4500 Sachsen durch Karl den Großen im Jahre 782 in Verden Diese Gesetzessammlung zum Schutz der neuen religiösen und politischen Ordnungen sah drakonische Strafbestimmungen vor. Auf den »Rückfall« ins Heidentum stand fast immer die Todesstrafe. Die Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung und die neuen Gesetze griffen tief in die ältere sächsische Stammesverfassung ein und waren vermutlich Ursache für den neuen Aufstand noch im Herbst 782, der für die Franken mit einer schweren Niederlage am Süntel bei Verden an der Aller endete. Für Karl den Großen gab das Debakel den Anlass zu einer rigorosen Strafaktion. Nach den Reichsannalen sollen im sogenannten »Verdener Blutgericht« 4500 Sachsen auf seinen Befehl hingerichtet worden sein. In der Geschichtswissenschaft wird zunächst die hohe Zahl von Opfern angezweifelt. Grundsätzlich ist aber auch zweifelhaft, ob die Hinrichtungen in Verden überhaupt stattgefunden haben. Wie dem auch sei, Widukind konnte sich der Strafe durch rechtzeitige Flucht zu den befreundeten Dänen entziehen. Die Reichsannalen [2] (sowie auch deren in der älteren Forschung als Einhardsannalen [3] bezeichnete Fassung) berichten: Da Widukind nicht greifbar war, hätten die sächsischen Großen diejenigen Sachsen, die an der Erhebung beteiligt waren, an Karl den Großen ausgeliefert. Es habe sich um 4.500 Personen gehandelt. Sie alle seien auf Befehl des Königs an einem Tage enthauptet worden: »usque ad quattuor milia D traditi et super Alaram fluvium in loco, qui Ferdun vocatur, iussu regis omnes una die decollati sunt.« [3]
    Zudem hätten die Sachsen die Rädelsführer »zur Hinrichtung ausgeliefert, 4.500; was auch so geschehen ist« (»ad occidendum, quatuor milia quingentas; quod ita et factum est«) [2].

    Nach seiner Rückkehr kam es 783 zu zwei offenen Feldschlachten bei Detmold, bei denen die Franken die Oberhand behielten. Trotzdem blieb die Lage so instabil, dass Karl der Große mit seinen Truppen den Winter 784/85 in Herstelle an der Weser verbrachte.Westfalen um 800 Die Aufständischen hatten hierdurch keine Möglichkeit, sich zu erholen und neue Truppenkräfte zu sammeln. Im darauffolgenden Frühjahr ließ Karl von der Eresburg aus ihre Burgen und Güter plündern und wichtige Fernstraßen von Wegelagerern räumen. Im Sommer 785 fand in Paderborn die zweite Reichsversammlung statt, an der auch Sachsen teilnahmen. Im Anschluss an den Reichstag verfolgte Karl die Anführer des Widerstands, Widukind und dessen Schwiegersohn Abbio, bis weit in den Norden. An der Elbe nahm er über bekehrte Sachsen Kontakt mit ihnen auf. Widukind musste sich der fränkischen Übermacht beugen. Karl sicherte dem Sachsenherzog im Falle seiner Unterwerfung Straffreiheit zu und stellte zu seiner Sicherheit Geiseln. Erst daraufhin ließ Widukind sich 785 in der Pfalz Attigny (Champagne) taufen. Karl selbst übernahm das Patenamt und ehrte den neugewonnenen Christen mit großzügigen Geschenken. Papst Hadrian ließ ein dreitägiges Dankesfest für die gesamte abendländische Christenheit feiern. Dies unterstrich die politische Bedeutung der Taufe Widukinds, wurde doch damit der Weg frei für die weitere Christianisierung der Sachsen und ihre Integration in das Frankenreich. Nach der Taufe verlieren sich die historischen Spuren Widukinds in die Welt der Sagen und Legenden.

    Auch nach der Unterwerfung Widukinds folgten noch sächsische Aufstände, die Karl zu weiteren militärischen Aktionen zwangen. Gleichzeitig begann er mit der inneren Stabilisierung der eroberten Gebiete. Zur Versorgung und Stützung der fränkischen Macht entstanden entlang der Weser befestigte Königshöfe: so in Lügde/Schieder, bei Brakel und Warburg sowie bei Herstelle an der Weser. Westfalen um 800 Die Missionierung erfolgte über die seit 786 gegründeten Bistümer Minden, Münster und Paderborn sowie Bremen und Verden. Auch die Neugründungen und der Ausbau zahlreicher Klöster und Kirchen trugen wesentlich zur Festigung des neuen Glaubens bei. Von besonderer Bedeutung war die 815 gegründete Reichsabtei Corvey an der Weser. Sie entwickelte sich im 9. und 10. Jahrhundert immer stärker zum kirchlichen und kulturellen Mittelpunkt Sachsens.

    797 wurden die harten Bestimmungen der »Capitulatio« von 782 gemildert. Die endgültige Grundlage für die Versöhnung zwischen Franken und Sachsen bot die 802 beschlossene »Lex Saxonum«, die nun auch das altsächsische Volksrecht berücksichtigte. Über das Ende der Sachsenkriege berichtete Einhard [1]: »Schließlich, nachdem [Karl] alle ... besiegt und unterjocht hatte ... [holte] er 10.000 Mann mit Weib und Kind von ihren Wohnsitzen auf beiden Ufern der Elbe weg ... und [siedelte] sie da und dort in Germanien und Gallien in vielen Abteilungen an ... Unter der Bedingung ... nahm der Krieg ... ein Ende, dass [die Sachsen] dem heidnischen Götzendienst und den heimischen Religionsgebräuchen entsagten, die Sakramente des christlichen Glaubens annahmen und mit den Franken zu einem Volke sich verbanden.«
    Beim endgültigen Friedensschluss von 804 waren die Sachsen ein durch Waffengewalt und Deportationen stark dezimiertes Volk. Für sie bedeutete die Zwangseingliederung zwar Zerstörung der alten politischen Verfassung und Verlust der traditionellen Weltordnung, aber ihre gleichberechtigte Integration in das fränkische Reich führte zur Verschmelzung beider Völker.
Soweit erzählen es uns die damaligen Aufzeichnungen. Doch sind sie auch wahr? Die Unterwerfung Widukinds durch »Charlemagne«, und die damit einhergehende christliche Taufe, ist demnach der Wendepunkt der Sachsenkriege und urkundlich festgehalten. Nun wurden diese »Urkunden« aber von den Erzfeinden des Sachsenherzogs - den christlichen Geistlichen - in lateinischer Sprache verfasst, die damals nur sehr wenige Menschen lesen oder gar verstehen konnte - ein großer Anreiz für Fälschungen und Fehldarstellungen, ob kirchlich oder politisch motiviert.

Kreuzdarstellung an den Externsteinen Von seinem Volk geliebt und verehrt sind unzählige Sagen, Mythen und Legenden im Laufe der Jahrhunderte um Widukind entstanden. Diese widersprechen sich vielfach, so dass die Wahrheitsfindung oft kaum möglich ist. Das Brauchtum der Sachsen wurde durch die christliche Missionierung »umgewertet«. Aus heidnischen Feiern wurden auf Anweisung Papst Gregors II. christliche Feste gemacht: »So muss jedes Fest zu Ehren ihrer Götter ... in ein anderes umgeformt werden ... in Feste der heiligen Märtyrer, ... Feste mit religiösen Zeremonien ...«.
Was sich zerstören ließ, wurde rücksichtslos und gründlich vernichtet. Die Heiligtümer, Denkmäler, Sonnen- und Sternwarten, Wohnstätten und andere Bauwerke wurden in Schutt und Asche gelegt. Ein Hauptheiligtum der Germanen - die Externsteine am Teutoburger Wald - war zu gewaltig, um es vollständig zu zerstören. So konnte es nur stark beschädigt und mit christlich-jüdischer Symbolik entweiht werden: Es wurde durch Einmeisselung einer Kreuzabnahme-Szene »christianisiert« und somit legitimiert. Genauso musste aus dem tapferen und heidnischen Widerstandskämpfer Widukind ein christlicher Heiliger gemacht werden, dem das sächsische Volk gewillt war zu folgen.

Die »Deutsche Zeitung« veröffentlichte am 16.12.34 einen Aufsatz von M. Möller, Hamburg, mit dem Titel »Wurde Widukind getauft?« Darin heißt es: »Nicht nur die Geschichtsschreiber alten Stils, sondern auch diejenigen neuerer Prägung, haben verfehlt, die markantesten Bilder aus dem Leben Widukinds der tatsächlich nachgewiesenen Wahrheit entsprechend darzustellen. Vor allem ist es die fast von allen vorgegebene Bekehrung und Taufe, die ohne genaue Urkundenprüfung immer wieder hervorgehoben wird. Und gerade dieser Punkt ist der heikelste und am heftigsten umstrittene. [...] August Wetzel [4] weist klar und scharf nach, dass die Mönche Rudolf und Meginhard die Translation gar nicht selbstständig geschrieben haben können, insbesondere ist die Randglosse ›hueusque rudolf‹ (›bis hierher rudolf‹) sehr verdächtig. Der [darauf] folgende Zusatz, der von der Taufe Widukinds erzählt, ist von dritter Hand geschrieben [...] Behrisch [5] [hingegen] bezieht sich auf ein handschriftliches, sehr verdächtiges Manuskript in der Dresdner Bibliothek, wonach Wittekind vom Heiligen Witten getauft sei, - daher der Name Wittekind. Er schreibt aber schon vorbeugend: ›Seine geschwinde Bekehrung darf niemand verdächtig scheinen oder als eine Verstellung angesehen werden‹ «.

Dieses zitierte handschriftliche und sehr verdächtige Manuskript ist die »Lebensbeschreibung der Königin Mathilde« [6]. Mathilde, Tochter des sächsischen Grafen Dietrich, eines Nachkommen Widukinds, berichtete darin u.a., dass der Bischof Bonifatius die Taufe an Widukind 785 in Attigny vollzogen habe - Bonifatius war aber zu diesem Zeitpunkt bereits 30 Jahre tot! Bei Behrisch' Heiligen Witten könnte es sich um Wittanus - »der Weiße« - gehandelt haben, der durch Bonifatius im Jahre 741 zum Bischof Witta von Büraburg bei Fritzlar in Nordhessen ernannt worden war. Doch auch seine Spuren verblassen um 760 herum - zu diesem Zeitpunkt hatte er schon ein für damalige Verhältnisse biblisches Alter von etwa 60 Jahren erreicht.

Ist Karls so berühmter Brief an den angelsächsischen König Offa von Mercien aus dem Jahre 785, in dem er von der Taufe Widukinds berichtet und auf den sich alle nachfolgenden Dokumente und Urkunden stützen, also wirklich nur eine plumpe Fälschung?

Der Missionar Dettmer [7], der das Behrische Buch [5] ebenfalls ein »Phantasiestück« nennt, beschreibt die Feiern des Papstes zur Unterwerfung und Taufe Widukinds wie folgt: »Von all den Sagen, womit das Volk die Heldengestalt Widukinds umwob, bildete sich zuerst diejenige aus, die ihn uns vorgeführt als den zum Christentum wunderbar bekehrten Helden. [...] Seine wunderbare Bekehrung, das ist die Haupt- und Lieblingssage des Volkes. Und die Taufe? Nicht weniger als 12 Orte sind es, die sie für sich beanspruchen.« - Darunter auch das Osnabrücker Vorörtchen Belm [8]. - Nun ist Dettmer wegen seiner kirchlichen Stellung als Missionar zwar befangen und scheidet als wissenschaftlich objektiver Berichterstatter aus, aber die Bekehrung und Taufe Widukinds eine Haupt- und Lieblingssage? Er notiert weiter: »Sind schon die historischen Nachrichten über Widukind aus der Zeit vor seiner Bekehrung spärlich, so finden wir über den bekehrten Widukind fast gar keine, die auf Glaubwürdigkeit unzweifelhaften Anspruch erheben könnten. [...] Die schönste Sage ist die von seiner Bekehrung ...« Kann man es noch klarer ausdrücken?

Die Bekehrungsgeschichte Widukinds ist also ein Mythos? Wir wissen nicht, ob er tatsächlich getauft wurde, wo oder durch wen. Heinrich Rogge lässt ihn in seinem Drama »Widukind - Drama in 7 Bildern« von 1972 sogar vorzeitig ermorden. Fest steht jedenfalls, dass es nach 785 keine gesicherten Nachrichten mehr über Widukind gibt. Er verschwindet aus den Quellen. Allerdings wird Widukind nochmals in der Vita Liudgeri erwähnt, die recht zuverlässig von Liudgers Neffen Altfrid [9] aufgezeichnet wurde. Darin befindet er sich im Jahre 788/89 auf dem Weg zum Feldzug gegen die Wilzen im heutigen Vorpommern. Eine letzte Eintragung findet sich in der Kaiserchronik [10], in der gesagt wird, Widukind sei von Gerold von Schwaben, dem Schwager Karls des Großen, erschlagen worden - Gerold selbst starb im Jahre 799.

Der Stammbaum der Ottonen Widukinds nebulöses Leben, geprägt von Schlachten und Feldzügen, einer myteriösen Taufe und seinem Taufpaten »Charlemagne«, trugen zu der Bildung eines »Widukindmythos'« bei, der bis heute ungebrochen ist und vermutlich schon zu seinen Lebzeiten entstand. Schriftlich nachweisen lässt er sich für das Jahr 919, als Heinrich I. als Herzog der Sachsen die Franken auf dem deutschen Herrscherthron ablöste. Dieser heiratete Mathilde, eine Nachfahrin Widukinds. Glanz und Ruhm ihres Vorfahren dienten nun dem ottonischen Königshaus zur Herrschafts- und Machtlegitimierung. Später, nachdem Mathilde von der Kirche heiliggesprochen worden war, galt die Bewunderung nicht mehr dem »kämpferischen Heiden«, sondern dem eifrigen und überzeugten Christen. Widukind_epitaph Die um 1000 entstandene Lebensbeschreibung Mathildes [6] zeigt Widukind als fleißigen Kirchengründer und wachsamen Verteidiger des christlichen Glaubens. In der Mathildenvita wird auch zum ersten Mal der Ortsname Enger erwähnt, wo Widukind eine »cellula« (Kirchenzelle) gegründet haben soll. Damit war der Grundstein für die sich rasch entwickelnde Widukind-Tradition in Enger gelegt.

Nach dem Aussterben der Ottonen fiel die Kaiserkrone an das fränkische Geschlecht der Salier. Im Investiturstreit Heinrichs IV. verbündeten sich die Sachsen mit der päpstlichen Kirche. Die Legendengestalt Widukinds nützte beiden, indem eine Sage in Umlauf gebracht wurde, in der der Sachsenführer allen historischen Tatsachen zum Trotz als christlich-moralischer Sieger gegenüber dem Kaiser auftrat. Im Zuge dieses gemeinsamen Kampfes der Sachsen mit der Kirche ist es denkbar, dass das berühmte Widukind-Epitaph aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das als eine der ältesten Grabplastiken in Deutschland gilt, in das Stift Enger gelangte. Noch heute befindet sich das lebensgroße Grabrelief in der Engeraner Kirche und gilt als die älteste Darstellung des Sachsenführers.

Im 12. Jahrhundert entdeckte die Dichtung den mythischen Helden Widukind. Berühmt wurde das französische Lied »Chanson des Saxons« [11] von Jean Bodel von Arras. Bis zum 14. Jahrhundert waren Widukind-Sagen und -Dichtungen in ganz Europa verbreitet. Im Zuge des zu Anfang des 19. Jahrhunderts erwachenden deutschen Nationalgefühls gewann Widukind als Vorkämpfer deutscher Freiheit und Verkörperung deutscher Tugenden neuen gesellschaftlichen Symbolwert. Diese Stimmung erreichte während der Napoleonischen Befreiungskriege ihren Höhepunkt. Napoleon erklärte sich zum Erben Karls des Großen, woraufhin viele Deutsche die Franzosen mit den Franken gleichsetzten. Widukind und die Sachsen wurden zum politischen Vorbild im nationalen Freiheitskampf. Beispielhaft hierfür ist der zeitgenössische Aufruf Friedrich de la Motte Fouqués: »Sachsen zu Rosse, Karl ist im Land!« [12] aus dem Jahre 1810. Die romantische Wertschätzung eines Volkshelden verband sich mit nationalem Bewusstsein und politischer Aktivität. In dieser Zeit entstand auch die erste umfassende schriftliche Sammlung der bisher nur mündlich überlieferten Volkssagen.

Die verklärte Haltung gegenüber dem Germanentum hielt auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs von 1871 an. Einweihung des Wittekinddenkmals in Herford 1899Die in Herford und Enger errichteten Widukind-Denkmäler zeigen eine bizarre Mischung aus naivem Germanenkult, Kaiserverehrung und imperialem Sendungsbewusstsein. Durch die Beschwörung einer gemeinsamen heroischen Vergangenheit sollte ein alle Schichten verbindendes Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. In diesem Sinne ist auch die Einweihung des Hermanns-Denkmals 1875 bei Detmold zu verstehen.

Doch die germanischen und sächsischen Helden sollten schon bald eine national-rassistische Umdeutung erfahren. Anfang des 20. Jahrhunderts widmete sich Hermann Löns dem Widukind-Thema. Seine Novelle »Die rote Beeke« (um 1908) beschreibt das »Verdener Blutgericht« in den drastischsten Farben. Einweihung des Wittekinddenkmals in Enger 1903 Die dort ausgedrückte leidenschaftliche Abneigung gegen Karl den Großen und die fremdländischen Franken fand ihre aktuelle Umsetzung in der antifranzösischen Stimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Mit dem völkischen Nationalismus lebte auch Widukinds Geist wieder auf, der am Ende der Lönsschen Novelle nur noch auf Rache sinnt. Seine Version vom »aisken Schlächter Karl« passte sehr gut zum angeschlagenen Selbstbewusstsein der deutschen Nation nach 1918.

In der Zeit des Nationalsozialismus setzte eine massive ideologische Vereinnahmung des Sachsenführers für staatliche Interessen ein. Alfred Rosenberg, Leiter der geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDAP, wurde zum bekanntesten Anwalt Widukinds, indem er ihn immer wieder neu zu den Idealtypen des »germanischen Führers« und Kämpfers für die »Reinheit der nordischen Rasse« stilisierte.

Für Rosenberg gab es nur drei entscheidende Gestalten deutscher Vergangenheit und Gegenwart: »Einmal Hermann im Kampf gegen die römischen Legionen als Sieger, fast 800 Jahre später Widukind als zweiter Kämpfer für Blut und Boden als der tragische Unterlegene, und 1000 Jahre später Adolf Hitler als unmittelbarer Fortsetzer des Werks Hermanns des Cheruskers und des Herzogs Widukind.« Alfred Rosenberg Für Rosenberg war Hitler die Reinkarnation des Sachsenführers. In seiner Rede auf dem Niedersachsentag Ende Juni 1934 [13] führte er deshalb weiter aus: »Heute reitet wie vor tausend Jahren wieder Herzog Widukind durch die Wälder und Täler Deutschlands, ruft uns zwar nicht zum kriegerischen Kampf, wohl aber zum Kampf um die innere Ausgestaltung, zum Kampf für die Überwindung aller Gegensätzlichkeiten innerhalb des deutschen Volkes, zum Kampf für ein Denken festverwurzelt in Blut und Boden. Das ist das große Vermächtnis, das wir zu hüten haben.«

Im Rahmen dieses Niedersachsentages besuchte Rosenberg am 23.06.1934 Enger, um eine Totenehrung am mutmaßlichen Grabmal Widukinds abzuhalten. Seit dem frühen Morgen hielten Hitlerjungen am Sarkophag Ehrenwache. Der Platz um die Kirche war mit Girlanden, Laub und Hakenkreuzfahnen geschmückt. SA, HJ, BDM und Vertreter der Engeraner NSDAP säumten die Straßen und standen Spalier bis zum Kircheneingang. In der Kirche überreichte ein vermeintlicher Nachfahre Widukinds, ein Sattelmeier, Rosenberg einen Strauß Heckenrosen, den jener am Grab niederlegte. Die Inschrift auf der roten Schleife lautete: »Dem deutschen Herzog!«

Die antikirchliche Komponente, die der Widukind-Mythos schon vor 1933 anhaftete, wurde von den Nationalsozialisten gezielt aufgegriffen und auch auf andere mittelalterliche Symbolfiguren übertragen. Im Dom zu Quedlinburg richteten sie unter Federführung der SS eine »nationale Gedenkstätte« am Grabe Heinrichs I. ein. Heinrich galt durch seine militärischen Erfolge 933 über die Ungarn und seine Politik der Einigung der Stämme im Innern des Reichs als Vorbild. Als ein weiterer Versuch, historische Bezugspunkte zu entwickeln, wurde auch der Braunschweiger Dom Heinrichs des Löwen zu einem NS-politischen Denkmal umgestaltet und als nationale Weihestätte missbraucht. Ähnliche Pläne existierten auch für die Engeraner Stiftskirche. Mit der Widukind-Grabstätte bot sie sich als geschichtlicher Wallfahrtsort an, doch Kriegsausbruch und die geschickte Verzögerungstaktik des Presbyteriums verhinderten den Umbau der Kirche.

Alfred Rosenberg »Heiliger Boden liegt [...] für uns nicht irgendwo im Morgenland, sondern heilige Erde ist überall da in Deutschland, wo einmal dieser Boden mit dem Blute seiner Bewohner verteidigt wurde.« Entsprechend diesem Bekenntnis Rosenbergs vom Mai 1934 boten gerade Niedersachsen und Westfalen verschiedene historische Bezugspunkte für die völkisch-nationalsozialistische Mittelalterdeutung. Neben Braunschweig und Quedlinburg wurde in Verden an der Aller eine »Thingstätte« für die 4500 vermeintlich von Karl dem Großen hingerichteten Sachsen errichtet. Die Wewelsburg südwestlich von Paderborn baute Heinrich Himmler, jedoch ohne geschichtlichen Begründungsversuch, zu einer »Gralsburg für die Artusrunde« der SS-Führer um. Ebenso unter Obhut der SS standen die Externsteine im Teutoburger Wald. Hier vermuteten NS-Historiker den Standort der Irminsul, des germanischen Götterheiligtums. Auch Enger verloren die Nationalsozialisten nicht aus den Augen. Unter großem propagandistischem Aufwand wurde am 08.06.1939 hier die Widukind-Gedächtnisstätte eröffnet. Schirmherr der Gedächtnisstätte war der »Reichsführer SS« und Polizeichef Himmler. Bewusst als »Kult- und Weihestätte«, nicht als Museum konzipiert, wurden Wirken und Wirkung Widukinds nicht wissenschaftlich dokumentiert, sondern im Sinne der NS-Weltanschauung dargestellt.

Nach 1945 kam es nicht zu einem vollständigen Bruch mit den Inhalten dieser ganz und gar ideologisch geprägten »Weihestätte«;. Als ein Relikt nationalsozialistischer Zeit konnte die Gedächtnisstätte bis auf wenige Korrekturen noch Jahrzehnte überdauern. Erst in den 70er Jahren setzte eine massive Kritik von außen ein, woraufhin eine völlig neue Konzeption entwickelt wurde, die eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des Widukind-Themas zum Ziel hatte.

Nach umfangreichen Umbaumaßnahmen wurde 1983 anstelle der alten Widukind-Gedächtnisstätte das Widukind-Museum eröffnet Mit der neuen Ausstellung distanzierte sich das Museum von dem pseudowissenschaftlichen Personenkult der alten Weihestätte, aber auch von den traditionellen Wunschvorstellungen, Spekulationen und Halbwahrheiten, die den Mythos Widukind lange Zeit umgaben und noch umgeben. Da die wenigen gesicherten Quellen kein geschlossenes Bild der Persönlichkeit, der politischen Motive und des Lebensschicksals Widukinds liefern, soll hiermit nun ein privater Versuch unternommen werden, Wirken und Wirkung des Sachsenführers überwiegend über die Rezeptionsgeschichte zu klären.


Quellennachweis:


  1. Einhardi, Vita Karoli Magni; Post G. H. Pertz recensuit G. Waitz; Editio Sexta; Hannover 1911; Digitalangebot der Bayerischen Staatsbibliothek
  2. Reichsannalen, Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi quingentesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum (Annales et chronica aevi Carolini); Stuttgart 1826; Digitalangebot der Bayerischen Staatsbibliothek
  3. Einhardsannalen, Annales regni Francorum inde ab A. 741. usque ad A. 829 ; qui dicuntur Annales Laurissenses Maiores et Einhardi; Hannoverae 1895; Digitalangebot der Bayerischen Staatsbibliothek
  4. Wetzel, August; Die translatio S. Alexandri: Eine kritische Untersuchung; Schmidt & Klaunig, 1881
  5. Behrisch, Heinrich Wolfgang; Biographien der Sachsen; 2 Tle. in 2 Bdn., Dresden Hilscher 1775-76
  6. Schütte, Bernd; Die Lebensbeschreibung der Königin Mathilde, Hannover 1994
  7. Dettmer, Jos; Der Sachsenführer Widukind nach Geschichte und Sage; Würzburg 1879; Digitalangebot der Universität Bielefeld
  8. Hartmann, Herm.; Belm - Der Taufort Widukinds und die Grabstätte Gevas; Monatsschrift für die Geschichte Westdeutschlands, Jg. 5.1879; Digitalangebot der Universität Münster
  9. Altfrid, Monasteriensis; Vita divi Ludgeri Mimigardevordensis ecclesie; Colonie 1515; Digitalangebot der Bayerischen Staatsbibliothek
  10. Kaiserchronik, Monumenta Germaniae Historica - Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen; Hannover 1892; Digitalangebot der Bayerischen Staatsbibliothek
  11. Bodel, Jean; Chanson des Saisnes (Chanson des Saxons); Frankreich Ende des 13. Jahrhunderts; Digitalangebot
  12. de la Motte Fouqué, Friedrich; Die gebrochne Burg. Eine altsächsische Geschichte in Balladen; Pantheon 2.Bd., 1810; Digitalangebot der Universität Bielefeld
  13. Völkischer Beobachter, Berlin, Nr. 175/6 vom 24./25.06.1934


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